Mein Opa ist ein leidenschaftlicher Spaziergänger.
Er war nach seiner Rente noch eine Weile als Versicherungsvertreter tätig und da es in Kasachstan damals nur eine Versicherungsfirma gab und zwar eine staatliche, war er ein willkommener Vertreter. Mein Opa versicherte Leute, die abseits der Verkehrswege und meist ohne Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel lebten und da es um die gesetzliche Rentenversicherung ging, war er herzlich erwartet. Dafür musste er viel zu Fuß gehen. Aber das tat er sehr gerne. Immer wenn er danach wieder nach Hause kam, war er sehr müde. Manchmal musste er sogar woanders übernachten, weil er so weit weg war und die Verkehrsanbindung so schlecht.
Wenn er frei hatte ist er immer spazieren gegangen. Nach dem Abendessen sagte er oft zu mir: „Gehen wir um den Block?“ Ja!- ich freute mich riesig, auch wenn ich nicht immer mit ihm Schritt halten konnte, weil ich war damals noch sehr klein war. Am Anfang war es für mich auch einer Art Spiel. Ich glaubte immer, dass noch irgendetwas auf unserem Spaziergang passieren würde, dass eine Überraschung auf uns warten würde. Meistens passierte jedoch nichts. Mein Opa war sehr schweigsam. Nur ab und zu mal zeigte er auf einen Vogel, der komisch goockte oder einen Stapel Brennholz, der unordentlich gestapelt war. Meistens kam aber nichts. Für mich war es trotzdem immer aufregend. Als ob ich bei einem geheimen Gang dabei sein durfte. Wir verstanden uns ohne Worte.
Als mein Opa in die Rente ging, bekam er eine Nachricht, dass er nach einer jahrelangen Wartezeit auf ein Fahrzeug endlich an die Reihe kam. Wir freuten uns riesig. Endlich können wir überall hinfahren, weit weg und ganz schnell! Es stellte sich aber bald heraus, dass mein Opa farbenblind war, also konnte er an der Ampel nicht unterscheiden, ob es grün war und er fahren durfte oder ob es rot war und er stehen bleiben musste . Also blieb der neue Lada „Niva“ in der Garage, gelb und schön. Bis ihn eines Tages mein Onkel abholte, der ihn von da an fuhr. Mein Opa zeigte kein Bedauern. Ihm war es egal. Er ist weiterhin gerne zu Fuß gegangen.
Als meine Großeltern nach Deutschland auswanderten, ist mein Opa weiterhin gerne spazieren gegangen. Ganz Ingolstadt zu Fuß. Wo gibt es etwas zu sehen oder billiger einzukaufen? Kann man nicht die Kinder und Enkelkinder besuchen? Natürlich, aber bitte zu Fuß! Heute ist mein Opa 90. Und er geht immer noch sehr gerne zu Fuß – einkaufen, spazieren und einfach so.
Inzwischen bin ich 40. Jetzt weiß ich, was ich an unseren Spaziergängen in meiner Kindheit hatte. Ich gehe auch gerne. Kein Fahrrad oder Auto fahren, nicht einmal Laufen oder Nordic Walking, machen mir so viel Spaß, wie einfach nur spazieren gehen. Ich gehe gerne! Ich schaue mich um, sehe ab und zu einmal einen Vogel, der blöd schaut, manchmal etwas anderes, manchmal nehme ich auf meinem Weg die Außenwelt auch gar nicht wahr und bin nur in mich versunken. Ich schweige. Wenn ich Stress in der Arbeit oder privat habe, gehe ich um den Block, wenn ich einen „vollen Kopf“ habe, gehe ich sehr lange. Ich gehe in meiner Mittagspause im Park eine Runde. Manchmal steige ich auf meinem Weg nach Hause ein paar Stationen früher aus dem Bus und gehe ein Stündchen zu Fuß. Oft gehe ich ohne irgendeinen Grund, nur so. Ich gehe, um zu gehen.
Das sind meine Ressourcen, die ich von meinem Opa bei unseren geheimnisvollen Gängen erhielt. Ich gehe gerne!